Historie und kunstgeschichtliche Einordnung eines
abwesenden Sammlungsobjekts – Der sogenannte „Trauernde Avalokiteśvara“ aus Gandhāra, erworben 1910
Termin: Donnerstag, 31.03.2022, 18 Uhr
Referentin: Dr. Corinna Wessels-Mevissen
Eine in ihrer individuellen Ausprägung ungewöhnliche Schieferstele aus Gandhāra (vermutlich Takht-i-Bahi), die sich von 1910 bis 1945 in der Indischen Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin befand und mittlerweile in der Eremitage, St. Petersburg, präsentiert wird, eröffnet dem Betrachter verschiedenste Möglichkeiten einer Annäherung und Deutung. Der Typus des sogenannten „nachdenklichen“ oder „kontemplativen“ Bodhisatvas, der zumeist mit einem oder mehreren Fingern einer Hand seinen – oft geneigt dargestellten – Kopf berührt, erfreute sich in verschiedenen Teilen Asiens etwa vom 3. bis 7. Jahrhundert großer Beliebtheit. Die historische Landschaft Gandhāra, Teile Pakistans und Afghanistans umfassend, hat hiervon unterschiedliche visuelle Konzepte hervorgebracht.
Die ursprüngliche architektonische und semantische Einbettung des Bildwerks ist unwiederbringlich verloren. Zugleich drängt sich durch die Haltung der Figur eine emotionale Empfindung auf. Der in Berlin entstandene Name, „Trauernder Avalokiteśvara“, den Albert von Le Coq in seiner Publikation von 1922 in relativierenden Anführungszeichen verwendet, erscheint daher zunächst wie eine willkommene Kompensation des „Bedeutungsverlusts“ dieser Skulptur, zu deren letztgültiger Einordnung auch 100 Jahre später noch viele Fragen offen bleiben. Die Rezeption durch das europäische Publikum erweist sich dabei als von der eigenen Antike geprägt, von der ausgehend tatsächlich selektive Übernahmen in diese Darstellung eingeflossen sein müssen. Das häufige Vorkommen des Zeigegestus in antiken Grabskulpturen sowie in Grabreliefs (letztere auch im Partherreich zu finden) könnte die Auffassung als ein trauerndes oder jedenfalls niedergeschlagen gestimmtes Wesen befördert haben.
Dr. Corinna Wessels-Mevissen forscht freiberuflich im Bereich der Kunstgeschichte Südasiens. Das Thema dieser Präsentation wählte sie aufgrund ihrer Ernennung als Gastwissenschaftlerin für das Jahr 2021 am Tsz Shan Monastery Buddhist Art Museum, Hongkong.